Gefährliche Diskussion um einen Religionsartikel in der Verfassung

Seit einiger Zeit laufen Bestrebungen, in der Verfassung einen Religionsartikel zu verankern. Damit würde für den Staat die Grundlage gelegt, tief ins Leben der Religionsgemeinschaften eingreifen zu können.

Atheisten und Freidenker haben in den letzten Jahren immer wieder gegen Kreuze in Schulzimmern oder auf Berggipfeln opponiert. CVP-Nationalrätin Ida Glanzmann wollte dem einen Riegel schieben. Sie reichte 2010 einen Vorstoss ein mit dem Text: «Symbole der christlich-abendländischen Kultur sind im öffentlichen Raum zugelassen.» Der Nationalrat stimmte dem zwar zu, der Ständerat versenkte den Vorstoss jedoch 2012 mit 21 zu 17 Stimmen.

Alte Idee eines Religionsartikels
Stattdessen laufen seit einiger Zeit Bestrebungen, einen Religionsartikel in der Verfassung zu verankern, womit der Staat tief ins Leben der Religionsgemeinschaften eingreifen könnte. Anlass hierfür war die Annahme der Minarettverbots-Initiative am 29. November 2009. Die CVP-Fraktion und der Kt. Basel wollten 2010 mit parlamentarischen Vor-stössen den Bundesrat beauftragen, das Verhältnis zwischen den Kirchen, anderen Religionsgemeinschaften und dem Staat verbindlicher zu regeln. Der neue Verfassungsartikel sollte die Religionsgemeinschaften verpflichten, die Grundrechte zu achten und Toleranz gegenüber Andersdenkenden walten zu lassen, sowie „Diskriminierungen“ wegzuräumen.

Auslegungsbedürftiger Text 
In der Folge schufen die beiden Rechts-professoren Jörg Paul Müller und Daniel Thürer 2011 den Entwurf für einen Toleranz-Artikel in der Bundesverfassung. Der Textvorschlag Thürer/Müller lautete: «Die Religionsgemeinschaften beschränken ihre Selbstdarstellung und ihr Auftreten im öffentlichen Raum (etwa mit Gebäuden, Aufrufen, Symbolen oder Kleidervorschriften) auf ein allgemein verträgliches Mass. Sie vermeiden ein bedrängendes Auftreten und tragen zu einem von Toleranz gekennzeichneten Zusammenleben bei. Sie fügen sich in ihrem Wirken in die Anforderungen einer demokratischen Gesellschaft ein und respektieren nach Innen und nach Aussen die Menschenrechte aller.» 

Unklare Begriffe und tiefes Eingriffsrecht
Der Entwurf enthält zahlreiche unklare Formulierungen, die dem Staat die Grundlage für ein weitgehendes Eingriffsrecht ins religiöse Leben bieten würden: Was heisst „allgemein verträgliches Mass“? Dürften Schmuckkreuze in der Öffentlichkeit noch getragen werden? Was heisst „respektieren nach Innen und nach Aussen die Menschenrechte aller“? Müsste die katholische Kirche somit aus Gründen der Gleichberechtigung ein Frauenpriestertum einführen und gleichgeschlechtliche Ehen segnen?

Carte blanche für die Freidenker
Die Formulierungen des Vorschlags Thürer/Müller sind stark auslegungsbedürftig, würden dem Staat jedoch auf jeden Fall eine enorm weitgehende Weisungskompetenz in die Gestaltung des religiösen Lebens bieten. Alle religiösen Praktiken, die den atheistisch-agnostischen Vorstellungen der Freidenker widersprechen, könnten damit unterbun-den werden.
Leider neu aufgewärmt wird der gefähr-liche Vorschlag jetzt im Zusammenhang mit der Unterschriftensammlung für die Anti-Burka-Initiative. Wieder aus der Schublade geholt hat die Idee diesen Juli ausgerechnet CVP-Präsident Gerhard Pfister. Unterstützung fand er natürlich sofort bei SP-Präsident Christian Levrat und dem früheren Juso-Chef Cédric Wermuth. Wermuth lancierte in der „Schweiz am Sonntag“ ein „Koalitionsangebot an die progressiven Kräfte“.

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