Die neue Sucht

Das Internet bietet oft Erleichterung und Hilfestellung. Immer stärker treten jedoch die Gefahren in den Vordergrund. Betroffen sind sowohl Erwachsene, als auch Kinder und Jugendliche.

Fast jeder hat es schon einmal beobachtet: Eine Familie geht am Sonntag ins Restaurant essen. Alle freuen sich. Nach der Menüwahl sitzen alle am Tisch. Der Vater starrt in die Luft. Die Mutter und die vier Kinder glotzen ins iPhone.

Die Zahlen sind beeindruckend: 221 Minuten, d.h. volle dreieinhalb Stunden verbringen Jugendliche gemäss JIM-Studie 2017 durchschnittlich jeden Tag im Internet. 89% aller 12-19Jährigen surfen täglich im Internet, 99% «zumindest hin und wieder». Viele besitzen selbst ein Smartphone (97%). 63% gehen täglich auf YouTube. 94% tauschen sich via WhatsApp aus. Die Hälfte aller Jugendlichen greift auf bildzentrierte Dienste wie Instagram (57%) oder Snapchat (49%) zurück.

Das Bundesamt für Statistik kommt zu ähnlichen Ergebnissen («Erhebung zur Internetnutzung 2017»): 94% der Schweizer zwischen 16 und 74 Jahren nutzen Internet und nur 7% haben keinen Anschluss – hauptsächlich wegen fehlender Kenntnisse oder zu hohen Kosten. Rund ein Drittel der 220’000 Haushalte ohne Internet hat Bedenken zur Sicherheit oder Privatsphäre. Dieses Misstrauen unterscheidet die Schweiz vom europäischen Durchschnitt. Sie führt die Rangliste an, gefolgt von Finnland und Deutschland.

Tatsächlich ist Internet – nebst vielfachem und unbestrittenem Nutzen – eine nicht ungefährliche Sache.

Abhängigkeit und Sucht

Das Smartphone, Netzsurfen, aber auch Computerspiele und Streaming-Kanäle machen abhängig. Der Zwang, überall und immer kommunikativ dabei zu sein, beginnt das Individuum beherrschen. Ständig scrollend, tippend, Updates suchend, demonstriert man der Öffentlichkeit: «Ja, ich bin gefragt.» Mit der Zeit wird dies zur Abhängigkeit und Sucht. Selbst die Schöpfer der Technik selber anerkennen dies. 

So haben im Februar 2018 Ex-Mitarbeiter von Google, Facebook oder Apple das «Center for Humane Technology» gegründet. Die Tech-Insider wollen die Gesellschaft vor dem zu schützen, was sie einst selber geschaffen haben. Zur Organisation zählen der Ex-Google-Ethiker Tristan Harris, Kommunikationsexperte Lynn Fox, der bei Apple und Google war, Ex-Facebook-Manager Dave Morin und Sandy Parakilas, sowie Justin Rosenstein, der den Facebook-«Like»-Button entwickelt hat. 

Sie meinen, dass die heutige Kommunikationstechnik den Menschen mental beherrscht. Der Kampf um die grösstmögliche Aufmerksamkeit der User habe Mechanismen erschaffen, die Menschen süchtig machen und für Manipulationen missbraucht werden könnten. Die Folge sei eine Gefährdung der physischen und psychischen Gesundheit, der Zerfall zwischenmenschlicher Beziehungen (auch zu unseren Kindern) und eine Unterwanderung der Demokratie (www.humanetech.com/problem). Der ständige Griff zum Smartphone vor allem Jugendlicher sei bedrückend. So wollen die Silicon-Valley-Insider an 55’000 Schulen über die Folgen übermässiger Nutzung sozialer Netzwerke aufklären. 

Wissen ist Macht

Früher drangen staatliche Institutionen wie Staatssicherheit und Polizei in die Privatsphäre ein. Heute sind es die Technologiefirmen, die ihre Geschäftsmodelle auf dem Sammeln, Analysieren und Verkaufen persönlicher Daten aufbauen. Dies führte dazu, dass Amazon, Facebook, Alibaba und Google zu den wertvollsten Firmen der Welt gehören. Ihr Reichtum basiert auf den Datenspuren, die wir im Internet hinterlassen. Google, Facebook und Amazon allein verfügen über Informationen von 2,5 Milliarden Menschen. 

Durch ein personalisiertes Datenprofil für jeden Nutzer haben die Tech-Konzerne ein enormes Wissen über Vermögen, Einkaufsgewohnheiten, Gesundheit, persönliche Probleme, Hobbys und – nicht zuletzt – politische und religiöse Überzeugungen des Individuums. Oft mehr, als wir selbst in der Familie voneinander wissen. Zudem verfliessen die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem. Weil fast jeder im Smartphone ein Ortungsgerät hat, wird ein lückenloses Aufzeichnen des Bewegungsverhaltens möglirr�(q �jhr r@ rize: 11pt;”>Mit der Zeit soll so eine «soziale Bewertung» (Social Scoring) des Individuums geschaffen werden. Als Wohlverhalten erscheinen dann etwa Blutspenden, veganes Essen oder Spenden für wohltätige Zwecke, während Parkbussen oder schlechte online-Bewertungen negativ auf die Gesamtbewertung drücken. 

Endziel ist ein Bestrafungs- und Ausschlusssystem, bei dem schliesslich Leistungen verwehrt werden. Der «Überwachte» kann oft gar nicht nachvollziehen, welche Schlüsse über ihn gezogen werden. Immer öfter erfolgt die Datenauswertung nämlich mit Algorithmen und künstlicher Intelligenz. Damit bewertet eine Maschine den Menschen – mit potentiell riesigem Schaden (etwa zur Kreditwürdigkeit einer Person).

Verlust der Privatsphäre 

Das enorme Wissen vertraulichster Dinge führt zu einer enormen Machtballung. Konzerne erhalten die Möglichkeit, politische und kommerzielle Botschaften gezielt zu bestimmten Empfängern zu bringen und sie in eine gewünschte Richtung zu lenken. Dies mag Werbung für ein Produkt oder eine politisch-religiöse Botschaft sein. Das Missbrauchspotential ist immens.

Zwar ist das Erstellen von Verhaltens-, Bewegungs- und Persönlichkeitsprofilen ein unerwünschter invasiver Eingriff in die Privatsphäre. Andererseits erfolgt die Preisgabe von Informationen oft freiwillig. Dies gilt auch für intime Bilder, die nachher von Dritten missbraucht und veröffentlicht werden. Vor allem junge Menschen können damit gemobbt und bis zur Selbsttötung getrieben werden.

Leben in der Scheinwelt

Zudem führt das Netz zu einem Verlust der natürlichen Scham. Die Preisgabe von Privatem wird zur Gewohnheit, deren Tragweite man sich nicht mehr bewusst ist.

Manche suchen sich durch eine Scheinidentität zu schützen. Wer etwa die Profile von Bekannten und Freunden auf Facebook ansieht, bemerkt rasch, dass dort abgebildete Fotos mit den realen Personen nicht mehr viel zu tun haben. Jede und jeder versucht ein bestimmtes Bild von sich zu verbreiten – eben so, wie man gesehen werden möchte. An sich ist dies ein sinnvoller Schutz. Allerdings führt das permanente Eintauchen in die virtuelle Scheinwelt die Betreffenden schliesslich dazu, selber zu glauben, was sie von sich zeigen wollten.

Die Rückkehr in die Alltagswirklichkeit ist dann umso schwerer. Der virtuelle Partner im Internet ist immer schön, immer verfügbar, immer willig. Weil der reale Partner diesen Ansprüchen nicht genügen kann, wird der Internet-Nutzer in der virtuellen Scheinwelt schliesslich immer mehr gefangen. Die Folge sind ein Realitätsverlust und zunehmende Unfähigkeit zu normalen zwischenmenschlichen Bindungen. 

Versuche zur Verbesserung

Heute ist die von der Technik ausgehende Gefahr teilweise erkannt. Die am 25. Mai 2018 in Kraft getretene EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) schränkt das Datensammeln ein. Neu muss hierfür jeder seine Zustimmung geben. 

Ungelöst bleibt das Problem von Abhängigkeit und Realitätsverlust. Die Tech-Konzerne stehen vor einem Dilemma. So sollen ihre Produkte zur Werbeoptimierung den Nutzer möglichst lange an sich binden. Andererseits fürchten sie – wie «Apple» nach einer Selbstmordreihe Jugendlicher – um den guten Ruf. Unter dem Slogan «digital well-being» empfehlen sie, das Smartphone zu gewissen Zeiten auszuschalten. Das hilft aber auch nicht enorm weiter. 
Letztlich ist es wie bei jeder Sucht: Es geht darum, sich mit gewissen Regeln selber in den Griff zu bekommen. Dazu gehört nicht zuletzt das Bewusstsein einer geistlichen Dimension, welche die diesseitige Welt äussert relativ erscheinen lässt – sei diese nun real oder virtuell. 

Celsa Brunner

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