Wie christlich darf die Schweiz noch sein?

Der «moderne» Staat definiert sich durch eine Ablehnung des religiösen Grundwerteverständnisses. Damit einher geht jedoch der Verlust des Wertekonsenses.

Am 10. März verabschiedeten die Zürcher Jungsozialisten (Juso) ein Positionspapier «Religion und Staat», in welchem sie sich über eine «christliche Leitkultur» beschwerten. Die «einseitige Bevorzugung des Christentums» sei im säkularen Staat unhaltbar. Christliche Feiertage wie Ostern, Pfingsten oder Weihnachten gehörten abgeschafft. Co-Präsidentin Nadia Kuhn schlug vor, diese durch den «Internationalen Frauentag» (8. März) oder den «Coming-Out-Day» (11. Oktober) zu ersetzen, an dem sich Gleichgeschlechtliche zu ihrer Homosexualität bekennen. Zudem dürfe der Staat Leistungsaufträge wie die Betreuung Obdachloser nicht mehr an christliche Gemeinschaften (Heilsarmee, Sieber-Stiftung) vergeben. 

Polemik gegen Gellertkirche

Fast gleichzeitig lief in Basel ein Kesseltreiben gegen die Gellertkirche. Im Januar veröffentlichte die linksalternative «TagesWoche» eine Reihe von Artikeln gegen Pfarrer Dominik Reifler («Sektengroove in der Kirche»). Die Gellertkirche ist eine der wenigen erfolgreichen reformierten Kirchen und führte infolge des grossen Andrangs im Januar einen dritten Sonntagsgottesdienst ein. 

Die «TagesWoche» kam zum Schluss, dass die Gellertkirche von den Predigten her eine Freikirche sei, obwohl sie Teil der reformierten Basler Münstergemeinde ist. Die Reformierten hätten einen Wandel «hin zu einem offeneren, liberaleren Glauben» durchgemacht. Auch sei sie Mitglied der «reaktionären Schweizerischen evangelikalen Allianz». Es herrsche eine «rigide Moral» mit «Ausgrenzung». Unter Berufung auf die Zürcher «Beratungsstelle» infosekta wurde gar insinuiert, dass es sich um eine Sekte handle.

Staatliche Predigtkontrolle?

Die Denunziation der «TagesWoche» hatte politische Folgen. Im Parlament setze CVP-Fraktionschefin Andrea Knellwolf die Gellertgemeinde faktisch den islamischen Fundamentalisten gleich. Religionsgemeinschaften müssten «für das Geschehen in ihren Räumen zur Verantwortung gezogen werden können», forderte sie. Von der Regierung verlange sie implizit eine Predigtkontrolle (Untersuchung «aller bekannt werdenden, extremistischen Aussagen von Exponenten religiöser Kreise»). 

Damit stellt sich die Frage: Dürfen wir heute noch sagen, was wir denken? Dürfen wir in Zeiten, in denen kein Wert wichtiger scheint als Nicht-Diskriminierung und Political Correctness, noch offen unsere Standpunkte vertreten? Dürfen wir noch öffentlich die Bibel zitieren – auch politisch nicht konforme Stellen über Homosexualität? 

Strafrechtskeule

Mit 14 zu 10 Stimmen bei 1 Enthaltung beschloss die Rechtskommission des Nationalrats am 23. Februar 2018 die Umsetzung der parlamentarischen Initiative Reynard «Kampf gegen die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung». Dabei geht es um eine Verschärfung des Antirassismus-Artikels im Strafrecht (Art. 261bis StGB). So würde künftig mit Freiheitsentzug bis zu drei Jahren bestraft, wer «öffentlich Ideologien verbreitet» oder «Propagandaaktionen fördert», die auf die «systematische Herabsetzung» von Personen oder Personengruppen wegen deren «sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität» gerichtet sind.

Heilungsgottesdienste, ja gar das blosse Gebet für Homosexuelle würden damit strafrechtlich erfasst. Auch die kritische Hinterfragung der Gender-Ideologie würde zum Straftatbestand. In der Praxis dürfte die wissenschaftliche Kritik des Genderismus nämlich kaum von der «öffentlichen Verbreitung von Ideologien» zur «systematischen Herabsetzung» wegen «Geschlechtsidentität» zu unterscheiden sein. Das SRG-Konzessionsverletzungsverfahren wegen der Äusserungen von SEA-Präsident Wilf Gasser in der Sendung «Sternstunde Religion» vom 21. Januar 2018 zum Thema «Kampfbegriff Gender» war nur ein Vorgeschmack auf künftige (strafrechtliche) Verfahren.Klicken Sie hier für die Vernehmlassung 13.407  Pa.Iv. Reynard  Kampf gegen die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung

«Wertepartei» CVP?

Am 14. Dezember 2017 wurden die Vernehmlassungsergebnisse zur Verschärfung von Art. 261bis StGB veröffentlicht. Von den Parteien äusserten sich einzig EDU, SVP und FDP gegen die Verschärfung, während die vermeintliche «Wertepartei» CVP schwieg. Bereits in der vorgängigen Ständeratsdebatte waren es ausgerechnet die CVP-Vertreter gewesen, die der Initiative Reynard zum Durchbruch verhalfen. 

Aber es geht nicht nur um Homosexualität und Genderismus, sondern um viel mehr: Es geht um Fragen von Leben und Tod, Abtreibung und Euthanasie, um die gesamte christliche Weltanschauung. Inwieweit darf das christliche Welt- und Menschenbild künftig überhaupt noch öffentlich vertreten werden? 

Toleranz als Religionsersatz

Jedes Rechtssystem ist von moralisch-ethischen, d.h. letztlich religiösen Werten geprägt. Das ganze Ehe- und Familienrecht, das Erbrecht, aber auch grosse Teile des Obligationenrechts und vor allem des Strafrechts sind von Werten abhängig. Ohne Moral keine Gerechtigkeit und ohne Gerechtigkeit kein Recht. 

Der heutige Staat sieht sich mit religiösem Pluralismus (Islam) und Atheismus konfrontiert und meint, hierauf mit «Neutralität» reagieren zu können. Dieser Rückzug des Staates aus der Wertedebatte ist eine Absage an verbindliche Wertvorgaben und gesellschaftspolitisch verhängnisvoll. Ein Staat, der sich nicht mehr am moralisch-religiös begründeten Gemeinwohl orientiert, ist gegenüber gesellschaftspolitischen Herausforderungen hilflos. Staatliche Ethikkommissionen sollen in dieser Hilflosigkeit Halt geben, doch mangels Legitimation vermögen sie das Wertevakuum nicht zu füllen. 

So bleibt denn als einziger Konsens die Negation jeder gesamtgesellschaftlich verbindlichen Wertevorstellung. «Toleranz» heisst deshalb die neue Religion. Inhaltlich definiert sie sich durch die Summe aller Partikularinteressen und durch ein Verbot moralisch-religiös begründeter Einschränkungen. Diese werden als diskriminierend empfunden. 

Alles wird käuflich

Es geht deshalb um viel mehr, als nur um religiöse Symbole im öffentlichen Raum oder die Abschaffung religiöser Feiertage. Das neue «Toleranz»verständnis geht einher mit einem grenzenlosen «Alles ist erlaubt». Dies gilt für permissives Sexualverhalten genauso wie für die Biogenetik. Aufgrund der Unmöglichkeit eines moralischen Konsenses wird alles käuflich – vom Frauenkörper (als Prostituierte ebenso wie als «Leihmutter») bis hin zur Haarfarbe des neugeborenen Babys.

Die europäischen Gesellschaften – auch in der Schweiz – spüren intuitiv die weitreichenden Folgen des Verlustes kollektiver Werte. Hie und da flackert deshalb der Ansatz einer Wertedebatte auf. Die tieferen, transzendentalen Voraussetzungen für eine nachhaltige Wertedefinition sind jedoch in der liberal-pluralistischen Gesellschaft nicht mehr gegeben.

Celsa Brunner

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