Unstimmigkeiten ums WHO-Pandemieabkommen

Während die Eidgenössische Demokratische Union (EDU) dagegen Stellung bezieht, verteidigt die Evangelische Volkspartei (EVP) das WHO-Pandemieabkommen. Die divergierenden Standpunkte lassen manche Christen etwas ratlos zurück.

Im Februar 2024 berichtete die EVP-Parteizeitung «Akzente» unter dem Titel «Desinformationskampagne gegen die WHO» über die laufenden Verhandlungen der Weltgesundheitsorganisation. EVP-Kommunikationsleiter Dirk Meisel erhob starke Vorwürfe gegen die EDU und gegen die Organisation «Zukunft CH» (idea 7/2024).

Gemäss Meisel geht es darum, Virenübertragungen vom Tier auf den Menschen früh zu erkennen. Die Grundrechte würden nicht angetastet und eine Impfpflicht komme in den WHO-Dokumenten überhaupt nicht vor. Die WHO gebe lediglich Empfehlungen ohne Verpflichtungen ab und die Staaten könnten ihr Vorgehen weiter souverän zu bestimmen. Auch der Bundesrat habe dies bestätigt (23.4012).

Mit der Frage, welcher Spielraum den Mitgliedstaaten verbleibt, hat die EVP tatsächlich einen heiklen Punkt angesprochen. Zuerst ein kurzer Überblick:

Zwischenstaatliche Verhandlungen

Im Dezember 2021 setzte die Weltgesundheitskonferenz ein Verhandlungsgremium ein («Intergovernmental Negotiating Body», INB). Dieses soll ein Rechtsinstrument erarbeiten, um die «Rolle der WHO bei der Pandemievorbereitung, -prävention und -bewältigung zu stärken». Die Arbeit des INB erfolgt parallel mit der Revision der Internationalen WHO-Gesundheitsvorschriften (IGV) von 2005.

Vom 18.-29. März 2024 fand in Genf die mittlerweile 9. INB-Session statt. Geeinigt hat man sich darauf, ein völkerrechtlich verbindliches WHO-Pandemieübereinkommen zu erarbeiten. Nach Vorentwürfen wurde am 30. Oktober 2023 erstmals ein definitiver Vertragsentwurf mit 36 Artikeln vorgelegt[1]. Der Text ist nur in Englisch erhältlich.

Im Kern geht es dabei um einen Vertrag, der zwar formell auf dem WHO-Statut beruht, aber in Inhalt und Tragweite faktisch neben und – zu einem gewissen Grad – an die Stelle der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation tritt. Der Vertrag soll Ende Mai 2024 gutgeheissen und zur Unterzeichnung aufgelegt werden.

Pandemieausrufung nicht das Problem

Die WHO hat bereits heute umfassende Kompetenzen zur Ausrufung von Pandemien. Alle Mitgliedstaaten sind aufgrund der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) seit 2005 verpflichtet, unter die entsprechende Definition fallende Vorfälle innert 24 Stunden zu melden. Die WHO beruft darauf einen vom WHO-Generaldirektor eingesetzten «Notfallausschuss» ein, der Massnahmen zur Eingrenzung der Krankheit beschliesst. Gelingt dies nicht, stuft der Ausschuss das Geschehen als Pandemie ein und ruft eine «gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite» aus.

Von 2005 bis 2020 kam es sechsmal zur Einberufung eines Notfallausschusses und zur Ausrufung einer gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite: Influenza A-Virus (2009), humanes Poliovirus (2014), Ebola (2014 und 2019), Zikavirus (2016) und SARS-CoV-2 (2020).

Ausweitung des Gesundheitsbegriffs

Die Pandemieausrufung ist deshalb nicht das Hauptproblem des neuen Abkommens und der IGV-Revision, sondern vielmehr die generelle WHO-Kompetenzausweitung. Sie wäre nicht länger eine koordinierende Behörde globaler Gesundheitsfragen, sondern für die gesamte Gesundheitspolitik zuständig – inklusive Rechtsvorgaben, Umsetzung und Kontrolle.

Während im bisherigen Statut die Aufgaben der WHO beschränkt sind (Art.2 und 18), wird im Pandemieabkommen der Begriff «One Health approach» eingeführt (Art.1 lit.d und Art.5). Dies ist ein eigentlicher Paradigmenwechsel. Bisher verstand die WHO unter Gesundheit das subjektive «individuelle physische und psychische Wohlbefinden». Mit «One Health» gilt nun ein «neues, ganzheitliches Verständnis von Gesundheit, wonach die globale Gesunderhaltung von Mensch, Tier und Umwelt untrennbar miteinander verbunden» seien. Zu den WHO-Aufgaben gehören neu auch der Klimawandel und die «Gesundheit des Planeten».

Zwar müssen Themen wie das Überspringen von Viren vom Tier auf den Menschen (Zoonose) oder verbreitete Antibiotikaresistenzen tatsächlich ganzheitlich angegangen werden. Aber die WHO sollte hierfür lediglich Grundlagen für den Informationsaustausch bereitstellen und nicht konkrete Massnahmen verfügen.

Knackpunkt: Souveränitätsverlust

Das Abkommen verpflichtet die Staaten zu gesetzgeberischen Massnahmen für die Umsetzung der sich laufend ändernden IGV-Vorgaben («Regulatory strengthening»). Zur Überwachung wird ein neues Komitee («Implementation and Compliance Committee» Art.21, Abs.9) eingesetzt, das faktisch unter der Leitung des WHO-Generaldirektors steht. Auch wird die Kontrolle der Mitgliedstaaten unter sich verstärkt («Peer review»). Die Rede ist von einem «robusteren Mechanismus».

Das Hauptproblem sind die Rechtsmechanismen zur Weiterentwicklung des Abkommens. Zwar hat der Bundesrat recht, wenn er in Antwort auf eine Interpellation von Nationalrat Franz Grüter (SVP/LU) am 22. November 2023 schreibt, er habe «keine Verpflichtung zur Umsetzung der WHO-Empfehlungen» und bleibe «souverän bei der Beurteilung der nationalen Lage» (Ziff.6). Allerdings gilt dies beim neuen Abkommen nicht mehr.

So muss das Pandemieabkommen für sein Inkrafttreten zwar von allen Staaten genehmigt werden. Einmal in Kraft, kann der Vertrag jedoch bei fehlendem Konsens mit einer Dreiviertelmehrheit der Anwesenden abgeändert werden (Art. 28 Abs.3). Dies gilt auch für eventuelle Annexe (Art.19 Abs.2) und Protokolle (Art.30 Abs.2). Die WHO-Mitgliedstaaten könnten also jederzeit mit Dreiviertelmehrheit eine Verbindlichkeit der WHO-Vorgaben beschliessen – ohne dass der Bundesrat dazu etwas zu sagen hätte.

Bei sonstigen UNO-Abkommen kann der Bundesrat normalerweise einen Vorbehalt anbringen, um einen solchen Souveränitätsverlust zu verhindern. Auch hier ist das Pandemieabkommen jedoch wieder ein Sonderfall, indem Vorbehalte explizit verboten sind (Art.26). Einmal unterzeichnet, ist unser Land der WHO-Bürokratie und der mit ihr oft verbandelten Gesundheitsbürokratien der Mitgliedstaaten völlig ausgeliefert. Man kann diese Konstellation nicht anders, denn als Souveränitätsverlust bezeichnen.

Informationskontrolle und Zensur

Zudem zielt das Abkommen darauf ab, Information zu steuern und zu kontrollieren (Art.1 lit.c). Die WHO betitelt dies mit dem Begriff «Infodemie», worunter sie «ein Übermass an Information sowie ‘falsche und irreführende’ Informationen in digitaler oder physischer Form» versteht. Dies verursache Verwirrung und Misstrauen gegen die Gesundheitsbehörden, was die öffentliche Gesundheit gefährde. Die WHO wird wohl nicht zögern, im tatsächlichen oder angeblichen Krisenfall eine weltweite Zensur zu verfügen.

Das Bundesamt für Gesundheit hält sich über die Schweizer Verhandlungspositionen bedeckt. Zwar verweist eine BAG-Website auf das Verhandlungsgremium INB – jedoch ohne jede Erklärung. Der Bundesrat wäre dringend gefordert, hier Transparenz zu schaffen.

Angesichts der Covid-Erfahrungen (für deren Aufarbeitung nur geschwärzte Papiere abgegeben werden) scheint das BAG ohnehin zum Selbstläufer geworden zu sein, der sich demokratischer Kontrolle entzieht. Dies wird sich wahrscheinlich auch darin zeigen, das Pandemieabkommen und die IGV-Revision trotz enormem Souveränitätsverlust als «reines Verwaltungsabkommen» dem parlamentarischen Genehmigungsprozess zu entziehen.

Celsa Brunner


[1] www.who.int/gb/inb/pdf_files/inb7/A_INB7_3-en.pdf

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