Ehe für alle «Stimmen wir doch einfach ab!»

Die Juristin Isabelle Häner macht ihr lange geheim gehaltenes Rechtsgutachten zur Ehe für alle publik. Im Gespräch mit Kathrin Alder und Angelika Hardegger erklärt sie, wieso diese gegen die Verfassung verstosse

Frau Häner, befürworten Sie die Ehe für alle?

Ich bin dafür, ja.

Als Juristin arbeiten Sie für die andere Seite. Sie haben ein Gutachten geschrieben, das besagt: Die Ehe für alle verstösst gegen die Verfassung.

Wir haben jederzeit die Möglichkeit, die Verfassung zu ändern.

Das Gutachten hat für Aufruhr gesorgt. Einsicht erhalten haben nur wenige Ständeräte der Rechtskommission. Der «Blick» schrieb von einem «Geheimgutachten». Warum die Geheimniskrämerei?

Die Kommission sollte sich frei eine Meinung bilden können, ohne Einfluss der öffentlichen Debatte. Nächste Woche entscheidet nun der Ständerat, ob eine Änderung der Verfassung nötig ist. Wenn er die Ehe für alle auf dem Gesetzesweg einführt, übergeht er den historischen Willen des Verfassungsgebers.

In der Verfassung steht: «Das Recht auf Ehe und Familie ist gewährleistet.» In der Verfassung steht auch: «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.»

Wir wissen aus den sogenannten «Materialien», dass die Ehe als Institut einzig für heterosexuelle Paare gedacht ist. Unsere Verfassung wurde 1999 totalrevidiert. Damals schrieb der Bundesrat klar, die Ehe sei als Gemeinschaft von Mann und Frau zu verstehen.

Genauer schrieb der Bundesrat doch, die Ehe sei «heute» als Gemeinschaft von Mann und Frau zu verstehen.

Die Frage ist: Ist jetzt nicht mehr «heute»? Ich sage, «heute» gilt noch.

Der Bundesrat hat das vor 21 Jahren geschrieben. Seither ist viel passiert.

Die Gesellschaft hat sich verändert, unbestritten. Aber der Wandel muss sich im Recht ausdrücken. Der Vergleich zum Frauenstimmrecht ist frappant.

Sie sprechen den Fall Appenzell Innerrhoden an . . .

Dort hat das Bundesgericht den Begriff «Landsleute» in der Verfassung so ausgelegt, dass auch Frauen mitgemeint waren. Das Bundesgericht tat sich schwer damit, es hatte zuvor mehrere Beschwerden abgelehnt. Erst 1991 sprach das gesetzgeberische Umfeld für die neue Auslegung. Zehn Jahre davor hatten Volk und Stände den Gleichstellungsartikel angenommen. Alle übrigen Kantone und der Bund hatten das Stimmrecht auf Frauen ausgeweitet. Das Wertempfinden der Bevölkerung kam in rechtlichen Entscheiden klar zum Ausdruck.

Die Umfragen zur Ehe für alle sind auch klar. Laut dem Forschungsinstitut GfS sind 82 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer dafür, dass Frauen Frauen und Männer Männer heiraten dürfen.

Eine Umfrage reicht nicht, um die Verfassung umzudeuten. Dafür muss die Lehre eine einhellige Meinung vertreten – das tut sie nicht. Es braucht rechtliche Entscheide, etwa vom Bundesgericht. Dort deutet das Material eher in die andere Richtung. Es gibt einen Entscheid des Bundesgerichts, in dem es heisst, die Ehe sei eine Gemeinschaft von Mann und Frau.

Dieses Urteil ist zwanzig Jahre alt.

Wir verfügen über jüngere Hinweise. Der Bund hat erst vor fünfzehn Jahren die eingetragene Partnerschaft für homosexuelle Paare eingeführt – explizit als Alternative zur Ehe.

Historisch hat die Ehe schon grössere Reformen erlebt ohne Verfassungsänderung. Das Patriarchat in der Ehe wurde abgeschafft, ohne dass Volk und Stände befragt wurden.

Der gesellschaftliche Wandel war damals offensichtlich. Das neue Eherecht kam 1988. Sieben Jahre davor haben Volk und Stände in die Verfassung geschrieben, dass Mann und Frau gleichgestellt sind. Die Abschaffung des Ehe-Patriarchats hat diesen Wertentscheid nachgeführt.

Wir haben zur Ehe auch junge Volksentscheide. Vor vier Jahren stimmte die Schweiz über eine Initiative der CVP ab, die die Ehe explizit traditionell definiert hätte. Es gab ein Nein.

Die Stände haben die Initiative angenommen.

Die Ehe-Definition war für viele der Hauptgrund für die Ablehnung. Sogar der CVP war am Ende nicht mehr wohl damit.

Das Resultat fiel selbst im Volk knapp aus. Fast die Hälfte der Stimmbürger stimmte der Initiative zu. Das spricht dagegen, dass der Wertewandel, den wir in urbanen Kreisen beobachten, in der ganzen Gesellschaft stattgefunden hat. Warum fragt man Volk und Stände nicht einfach noch einmal? Dann wüssten wir ohne Zweifel, ob die Schweiz die Ehe für alle will.

Wenn wir die Verfassung ändern, haben die Stimmen aus kleinen, ländlichen Kantonen überproportional viel Gewicht. Das müssen Sie doch berücksichtigen.

Für den Zusammenhalt der Schweiz ist das Ständemehr wichtig. Das ist historisch so gewollt. Ich stelle einfach fest, dass der Gesetzgeber zunehmend versucht, die Verfassung auszuhebeln. Die Ehe für alle ist das beste und bisher eindeutigste Beispiel.

Wo sehen Sie das Problem noch?

Die Presseförderung ist ein Beispiel. Bei der letzten Verfassungsrevision hat man explizit darauf verzichtet, die Presse zu subventionieren. Nun will der Bundesrat Subventionen in Millionenhöhe sprechen. Man erlaubt sich, einen neuen Konsens einfach im Gesetz zu verankern. Es gibt auch andere Beispiele, vor allem im Abgaberecht.

Und ausgerechnet die Ehe für alle soll jetzt ein Zeichen setzen?

Der Zeitpunkt ist gekommen, um Stopp zu sagen. Der Gesetzgeber setzt sich kaum mehr mit der Verfassung auseinander. Schauen Sie die Botschaften des Bundesrats an. Früher befassten sich die Botschaften vertieft mit den Verfassungsgrundlagen. Heute wird die Frage, ob ein Gesetz mit der Verfassung kompatibel ist, bestenfalls auf einer Seite abgehandelt. Der Fokus hat sich verlagert: Die Frage, ob ein neues Gesetz mit internationalem Recht vereinbar ist, wird seitenlang erörtert.

Das ist ein Abbild der Realität. Internationales Recht wird immer wichtiger.

Sicher, die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Ausland hat zugenommen. Wir müssen exportieren können, da ist es zentral, dass unsere Gesetze kompatibel sind mit dem, was etwa die EU regelt. Aber es ist ein Problem, wenn der Stellenwert der Verfassung so stark abnimmt.

Könnte ein Verfassungsgericht das Problem lösen?

Ja. Es würde das Parlament disziplinieren. Der Gesetzgeber müsste sich mit der Verfassung auseinandersetzen, weil immer die Gefahr bestünde, dass ein Gesetz vom Gericht für nicht anwendbar erklärt würde.

Der Ständerat entscheidet am Dienstag auch über den Zugang zur Samenspende für lesbische Paare. Sie sagen im Gutachten: Auch das verstösst gegen die Verfassung. Warum?

Laut Verfassung darf die Fortpflanzungsmedizin nur bei Unfruchtbarkeit helfen. Der Verfassungsgeber lehnt sich an den medizinischen Begriff an, also: Ein Paar hat ein Jahr lang ernsthaft versucht, ein Kind zu bekommen, doch es hat nicht geklappt.

Der Begriff könnte doch auch breiter gefasst werden, als unerfüllter Kinderwunsch.

Der medizinische Begriff ist klar. Bei einem homosexuellen Paar ist Unfruchtbarkeit in diesem Sinn naturgemäss nicht möglich.

Sie schreiben, es würde eine Diskriminierung von schwulen Paaren geschaffen. Diese dürften weiterhin keine leiblichen Kinder bekommen, weil Leihmutterschaft in der Schweiz verboten ist. Sie rechtfertigen eine alte Diskriminierung damit, dass sonst eine neue geschaffen würde?

Liegt heute überhaupt eine Diskriminierung vor? Ich glaube nicht. Der Verfassungsgeber hat sich klar für die heutige Lösung entschieden. Damit ist die Ungleichbehandlung, die ohne Zweifel vorliegt, sachlich begründet. Rechtlich gesehen liegt also keine Diskriminierung vor. Aber noch einmal: Stimmen wir doch einfach ab! Ändern wir die Verfassung.

Wie müsste ein neuer Ehe-Artikel in der Verfassung denn aussehen? Das Geschlecht wird heute ja mit keiner Silbe erwähnt.

Am konsequentesten wäre wohl die folgende Definition: «Das Recht auf Ehe und Familie ist gewährleistet, unabhängig des Geschlechts.» Es wäre für mich persönlich eine faire Definition: Niemand würde mehr aufgrund des Geschlechts ungleich behandelt.

Aus dem NZZ-E-Paper vom 28.11.2020

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