Vor zwei Jahren veröffentlichte der reformierte Pfarrer Hansjürg Stückelberger ein Buch mit dem Titel «Demokratie, Freiheit und christliche Werte». Es erschien zu seinem 90. Geburtstag als Rückblick auf ein reichhaltiges Leben, aber auch als tiefgründige Analyse.
In seinem Werk erklärt Stückelberger seine grosse Sorge über die Situation: «Es gibt keinen Staat ohne einen religiösen oder ideologischen Zusammenhalt. Die wertneutrale Gesellschaft ist eine Selbsttäuschung. Die geistigen Wurzeln eines Volkes sind immer eine Religion oder eine Ideologie, und aus diesen Wurzeln formt sich die Moral der Gesellschaft. Wenn diese geistigen Kräfte verschwinden, bleibt ein Volk ohne Moral. Damit wird eine Tür geöffnet für moralische Verwirrung, für ethisches Chaos. Die massive Zunahme von Süchten aller Art ist nur eines von vielen Anzeichen des Niedergangs. Ein Volk ohne Moral hat keinen Bestand. Das macht mir Sorgen – auch im Blick auf unsere Enkel und Urenkel.» Soweit die Analyse des tiefgläubigen Pfarrers. Genau an diesem Punkt sind wir heute: Keine Achtung mehr vor Gott und keine Achtung mehr vor dem Menschen als Gottes Geschöpf.
Der Mensch als käufliches Objekt
Bereits vor einigen Jahren brachte es ausgerechnet die Präsidentin der schweizerischen Ethikkommission, die Zürcher Rechtsprofessorin Monika Büchler, auf den Punkt. In einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung» rechtfertigte sie bereits 2014 die Leihmutterschaft damit, dass «auch Models, Tänzer oder Sportlerinnen ihren Körper nutzen, um den Zweck eines Arbeitgebers zu erfüllen». Alles klar: Im Liberalismus wird alles käuflich – auch der Mensch. Als menschlicher Brutkasten bei der Leihmutterschaft oder als Sexobjekt bei der Prostitution. Mit fast unglaublichen 172 zu 11 Stimmen lehnte der Nationalrat erst kürzlich am 6. Juni eine Motion von EVP-Nationalrätin Marianne Streiff für ein Verbot des Sexkaufes ab. Der Entscheid lässt tief blicken.
Der Mensch verliert seinen Charakter als ebenbildliches Geschöpf Gottes und wird zur käuflichen Ware. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch das Klonen zugelassen wird und geklonte Menschen als Ersatzteillager für ihre Geschwister dienen. Technisch ist dies schon heute möglich – und wer hätte nicht gerne früher oder später ein neues Herz, eine neue Lunge oder Leber…
Die Widersprüche des Liberalismus
Während einerseits die Individualrechte verabsolutiert werden und die Gesellschaft immer stärker in Partikulärinteressen zerfällt – die Frauen, die Trans, die Schwulen und Lesben, die Queeren, die «People of colour» – geht gleichzeitig die tiefere Achtung vor dem Menschsein verloren. Der Mensch ist nichts anderes mehr, als ein hoch entwickeltes Tier – wie es uns Scientience Politics weismachen will.
Nirgendwo wird die Absurdität offensichtlicher als bei den Behinderten: So werden zwar Milliarden in Baumassnahmen und Programme für behinderte Menschen gesteckt, aber gleichzeitig Behinderte vorgeburtlich systematisch liquidiert. Anders als die Frauen haben sie eben keine Lobby: Während die weibliche Selektion bei der Pränataldiagnostik vom Gesetz verboten ist, wird jene der Behinderten vom Gesundheitssystem geradezu gefördert. Behinderte sind ein unliebsamer Kostenfaktor für die Krankenkassen.
Christliche Symbolik
Parallel zum Verlust der Ehrfurcht vor dem Menschen als Geschöpf Gottes verliert die Gesellschaft ihre Achtung vor Gott. Zwar bleibt eine christliche Symbolik: Auf der Kuppel des Bundeshauses prangt nach wie vor ein Kreuz und der Fünfliber trägt den Satz «Dominus providebit» – der Herr wird vorsorgen. Auch auf der Landesflagge strahlt das Kreuz und die Nationalhymne beginnt – allen Bestrebungen der sog. «Schweiz. Gemeinnützigen Gesellschaft» zum Trotz – noch immer mit einer Anrufung Gottes. Aber hinter diesen äusseren Zeichen ist es morsch geworden.
Es ist unbestritten, dass unsere schweizerische Eidgenossenschaft auf einem christlichen Fundament aufbaute. Die alten Bundesbriefe begannen alle (mit Ausnahme Basels) mit der Anrufung «In nomine domini. Amen.» Auch die neue Landesverfassung von 1999 beginnt mit einem «Im Namen Gottes des Allmächtigen!». Wie der Staatsrechtler Thomas Fleiner treffend darlegte, will der transzendentale Bezug in der Präambel ein totalitäres Regime verhindern, das uns verführerisch eine falsche, diesseitige Glückseligkeit verspricht. «Ein Staat, der die Macht Gottes anerkennt, bekennt sich zu seinen beschränkten Möglichkeiten», schreibt Fleiner. Es überrascht wenig, dass sich linke und agnostische Kräfte mit ihren innerweltlichen Heilsversprechen am Jenseitsbezug der Präambel stören und diesen – auch bei der Nationalhymne – streichen möchten. So kommt es, dass (wie jüngst in Riehen) selbst auf Friedhöfen Kreuze abgehängt und Bibelzitate übermalt werden.
Totaler Glaubensverlust
Gottlosigkeit ist geradezu zum Inbegriff unserer säkularen, alles-ist-erlaubt Gesellschaft geworden. Mit Erschaudern beobachten wir den fast totalen Glaubensverlust unserer Gesellschaft. Mittels naturwissenschaftlicher Kenntnisse, Technik und Digitalisierung macht sich der Mensch selbst zum Gott. Bekennende Christen sind in diesem Umfeld nur Exoten und werden zunehmend als Störfaktor wahrgenommen. Mit ihren moralischen Geboten und Verboten stören sie das oberflächliche Glücksgefühl der liberalen Spassgesellschaft und stehen oft dem vielgepriesenen «Fortschritt» im Weg.
Ein entscheidendes Merkmal der heutigen Gesellschaft ist, dass es das «Böse» und damit die «Sünde» nicht mehr gibt. Alles wird relativ und eine Wertskala von «gut» und «böse» damit verunmöglicht. Selbst die «heiligsten» Werte werden durch diesen ethischen Relativismus in Frage gestellt. In der Forschung wird – von der Medizin bis hin zur Gentechnik – alles Machbare schliesslich auch gemacht. Sog. «Ethikkommissionen» dienen dieser Gesellschaft ohne ethischen Halt als Feigenblatt – aber nur vorübergehend: nämlich «bis sich die Vernunft durchgesetzt hat».
Volk ohne Moral
Glaube und Vernunft schliessen sich an sich keineswegs aus, sondern ergänzen sich. «Vernunft» wird aber dort gefährlich, wo sie autonom verabsolutiert wird. Verbunden mit einem abstrusen Fortschrittsbegriff wird sie zum Freipass für Fehlentwicklungen, die dem Menschen das Menschsein nehmen. Alles wird verhandelbar, alles käuflich. Auch der Mensch selbst. Er wird zum reinen Objekt. Traditionelle Tugenden wie Treue, Verlässlichkeit, Fürsorge werden relativ und nur noch nach dem unmittelbaren Nutzen beurteilt.
Auch vor der Familie macht die destruktive Entwicklung nicht halt. Die natürliche Familie von Vater und Muttern mit Kindern wird zum Jekami, zum «Patchwork». Eine schimmernde Regenbogen-Scheinwelt verdeckt die unermessliche seelische Not zahlloser Geschiedener und Zehntausender von Scheidungskindern.
Der Verlust des Menschseins fordert seinen Tribut: Laut BAG-Monitoring 2020 erkrankt jedes Jahr rund ein Viertel der Bevölkerung an einer psychischen Störung, darunter häufig Angststörungen (14,0%), Depressionen (6,9%) und Alkohol- und andere Süchte (3,4%).
Liebe heilt die Gesellschaft
Für uns als Christen stellt sich die Frage, wie wir mit dieser Situation umgehen. Hansjürg Stückelberger gibt uns einige sehr prägnante Ratschläge. Im Mittelpunkt steht für ihn die Liebe – und zwar einerseits die Liebe Gottes zum Menschen, als auch die Liebe der Menschen unter sich. So meinte er in einem Interview im «ideaSpektum»: «In Jesus Christus macht Gott den Menschen durch Vergebung und Erlösung frei von der Sklaverei der Sünde. Und von innerlich befreiten und versöhnten Menschen gehen neue Kräfte aus. Sie erneuern ihre Umgebung und langfristig damit auch die Gesellschaft. Gottes Liebe verändert und heilt sie hin zu mehr Freiheit.»
Und weiter: «Eine neue Wertschätzung der christlichen Werte setzt Selbstkritik voraus: Wo habe ich mich in meinem politischen Verhalten vom Eigennutz oder vom Zeitgeist und nicht von christlichen Werten leiten lassen? Rückbesinnung beginnt bei uns. Sie ist so etwas wie eine Umkehr oder Busse auf politischer Ebene. Das ist nicht einfach und setzt Demut voraus. Doch Achtung: Demut meint nicht kriecherische Unterwürfigkeit oder feiges Nachgeben. Im Gegenteil: Demut vor Gott macht mutig vor Menschen. Wer Gottes Ehre mehr fürchtet als Menschen, hat den Mut, auch Unangenehmes zu sagen. Und: Demütige sind bereit zum Gebet. Der Dienst von Christen an der Gesellschaft ist Teil unseres Auftrages, und Christen beginnen und begleiten ihre Dienste immer mit Gebet.»
Liebe und Wahrheit bringen Heilung
«Echte Liebe stellt sich der Wahrheit und sucht nach den Wurzeln eines Übels. Wenn politisch Verantwortliche nicht von einer Parteiideologie oder Profilierungssucht getrieben sind, sondern die Liebe zu den Bürgern sie bewegt, dann werden sie Lösungen und Kompromisse finden, von denen das ganze Land profitiert. Ja, Liebe genügt. Liebe in Verbindung mit Wahrheit verändert die Menschen und die Verhältnisse. Liebe heilt die Gesellschaft, sodass sie den Bürgern Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand bringt.» Wir sind Hansjürg Stückelberger herzlich dankbar für dieses Vermächtnis, das er uns auf den täglichen Weg mitgibt – ganz besonders im Blick auf den Nationalfeiertag vom 1. August 2022.
Celsa Brunner