«Ich bin stolz, dass ich diesem Druck standhielt»«denn ich wusste, dass ich dieses Kind haben will und mein Mann und ich mit der Situation zurechtkommen würden.» Mael ist unser grösstes Geschenk. Ich bin froh, um ihn gekämpft zu haben.»
Barbara Habegger, Mutter von vier Kindern
«Ich hätte mir gewünscht, mich auf mein Kind mit Trisomie 21 vorzubereiten»
Maél ist heute 11 Jahre alt, ein aufgeweckter Bub mit Brille, dem man ansieht, dass er anders ist als andere Kinder. Maél wurde mit dem Down-Syndrom geboren. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Elias ist gesund. Als Barbara Stotz Würgler mit Maël schwanger war, liess sie pränatale Untersuchungen durchführen. Mit diesen versucht man herauszufinden, ob mit dem ungeborenen Kind alles in Ordnung ist.
«Baby-Watching» für die Eltern
Beinahe alle Paare, die Nachwuchs erwarten, kennen regelmässige Ultraschalluntersuchungen. Mit dem «Baby-Watching» lässt sich das Ungeborene im Bauch beobachten; der Arzt oder die Ärztin kontrolliert optisch, ob mit dem Kind alles stimmt. Dazu kommen auf Wunsch weitere vorgeburtliche Testmethoden, die den werdenden Eltern zur Verfügung stehen. Dazu gehört der Ersttrimestertest, bei dem im Blut der schwangeren Frau verschiedene Hormon- und Eiweisswerte bestimmt werden.
Diese Werte werden zusammen mit dem Alter der Mutter und dem Resultat einer weiteren Untersuchung – der Messung der Nackentransparenz des Babys – mithilfe eines Computerprogramms analysiert. Die Nackentransparenz, die mit Ultraschall ermittelt wird, kann ein Hinweis sein für eine Chromosomenstörung beim Embryo.
«Es war ein Schock»
Barbara Stotz Würgler, die mit ihrer Familie in Bülach wohnt, hat diesen Ersttrimestertest machen lassen. Er ergab einen unauffälligen Wert, wie sie sich erinnert. Sie erfuhr erst nach der Geburt, dass ihr Sohn Maél eine Trisomie 21 hat. «Es war ein Schock», erzählt sie. «Wir mussten uns zuerst an den Gedanken gewöhnen, lernten aber mit der Zeit, gut mit Maéls Behinderung zu leben.»
Ihr Mann Konrad Würgler und sie hadern heute nicht mit der Tatsache, dass sie ein behindertes Kind haben. «Ich würde alles wieder gleich machen», sagt Barbara Stotz. «Ich hätte mir einzig gewünscht, mich auf mein Kind mit Trisomie 21 vorbereiten zu können.» Hätte sie es vor der Geburt gewusst, hätte sie bereits früh Informationen eingeholt und mit anderen betroffenen Familien Kontakt aufgenommen, sagt sie. «Unser Start mit Maél wäre weniger holprig gewesen.»
Barbara Habegger ist ebenfalls Mutter eines Buben mit Trisomie 21. Sie wohnt mit ihrer sechsköpfigen Familie in der Nähe von Winterthur und ist die Geschäftsführerin des Vereins Insieme 21, der sich für die Interessen von Menschen mit dem Down-Syndrom einsetzt. Ihr Bub – er heisst auch Mael – ist 13 Jahre alt. Barbara Habegger wusste früh in der Schwangerschaft Bescheid. Nach der Messung der Nackenfalte beschied ihr der Frauenarzt, es gebe praktisch keinen Zweifel, dass ihr ungeborenes Kind behindert sei. «Der Arzt sprach von einem schweren Herzfehler oder dem Down-Syndrom», erinnert sie sich. «Er drängte mich dazu, zur Bestätigung so schnell wie möglich eine Chorionzottenbiopsie machen zu lassen.»
Die Chorionzottenbiopsie oder die Fruchtwasserpunktion sind sogenannte invasive Untersuchungsmethoden. Der Arzt oder die Ärztin sticht mit einer Hohlnadel vorsichtig und unter Monitoring mit dem Ultraschall durch die Bauchdecke der Frau und entnimmt ein Stückchen Gewebe oder Fruchtwasser. Durch die Biopsie können Chromosomenabweichungen beim Ungeborenen wie etwa eine Trisomie 21 diagnostiziert werden. Die Fehlerquote ist gering, allerdings besteht die Gefahr, dass durch die Punktion eine Fehlgeburt ausgelöst wird.
Frage einer Abtreibung
Kein Wunder, dass die Forschung auch in Sachen pränatale Tests Fortschritte macht und neue Methoden auf den Markt kommen: Seit rund acht Jahren gibt es die NIPT-Tests. NIPT ist die Abkürzung für nichtinvasive Pränataltests. Mit ihnen lassen sich im Blut der Mutter Chromosomenanomalien wie das Down-Syndrom erkennen. Ein erhöhtes Risiko für eine Fehlgeburt besteht nicht. Die meisten Krankenkassen übernehmen seit rund fünf Jahren die Kosten für die NIPT-Tests, wenn zuvor ein Ersttrimestertest ein auffälliges Resultat ergeben hat. Als Barbara Habegger mit Mael, ihrem vierten Buben, schwanger war, gab es die NIPT-Tests noch nicht. Sie hatte vier Tage nach der Chorionzottenbiopsie Gewissheit, dass ihr Kind das Down-Syndrom hat. Heute sagt sie: «Ich erwachte erst danach aus einer Art Trance. Für mich war klar, dass ich das Kind austragen würde, obschon mich der Arzt zu einer Abtreibung drängte.» Sie empfand aber nicht nur Druck vonseiten des Gynäkologen, sondern auch von Kolleginnen, denen sie vom Testergebnis erzählte.
«Ich bin stolz, dass ich diesem Druck standhielt», erzählt sie, «denn ich wusste, dass ich dieses Kind haben will und mein Mann und ich mit der Situation zurechtkommen würden.» Seither habe sie ihre Haltung keine Sekunde bereut. «Mael ist unser grösstes Geschenk. Ich bin froh, um ihn gekämpft zu haben.»
Die Geschäftsführerin von Insieme 21 betont, jede Frau und jedes Paar müssten für sich selber entscheiden können, wie sie mit einem Testergebnis umgingen, das von der Norm abweiche. Diese Frage müssten alle individuell beantworten. Für sie beginnt das Dilemma aber schon viel früher: «Je mehr Tests es gibt, desto mehr wächst der Druck auf die werdenden Eltern, diese auch in Anspruch zu nehmen.» Diese Gefahr sieht auch Brigitte Hölzle vom Verein Ganzheitliche Beratung und kritische Information zu pränataler Diagnostik in Zürich. Als Leiterin der Beratungsstelle des Vereins ist sie täglich im Austausch mit Paaren, die vor schwierigen Fragen stehen – etwa ob sie ein behindertes Kind abtreiben sollen. Sie macht die Erfahrung, dass neben den Ultraschalluntersuchungen auch die NIPT-Tests inzwischen zur Routine geworden sind. Die Tests hätten viele Vorteile, sagt sie. «Man muss sich aber der Konsequenzen bewusst sein.»
Jedes Paar, so Brigitte Hölzle, solle eigenständig entscheiden können. «Die Voraussetzung dafür ist, dass schwangere Frauen und ihre Partner umfassend und neutral informiert sind. Denn sie müssen mit ihrem Entscheid heute und in Zukunft leben können.» Paare müssten also im Idealfall schon vor einer Schwangerschaft diskutieren, wie sie zu einem behinderten Kind ständen und was ihnen wichtig sei. Die Beratungsstelle hat eine Broschüre mit Entscheidungshilfen publiziert.
Roland Zimmermann ist Direktor und Chefarzt der Klinik für Geburtshilfe des Universitätsspitals Zürich (USZ). Er führt jeden Tag Ultraschalluntersuchungen und andere pränatale Tests bei schwangeren Frauen durch, informiert diese vorher und setzt sie und ihre Partner auch über die Resultate in Kenntnis. Das ist keine leichte Aufgabe, denn die Thematik ist komplex – und niemand wird gerne mit einem ungünstigen Ergebnis konfrontiert.
In seinen Augen dürften pränatale Untersuchungen vom Ultraschall bis zur Fruchtwasserpunktion in der Arztpraxis nicht zur Routine gehören. Er sagt: «Vor jedem dieser Tests braucht es einen aktiven Entscheid der schwangeren Frau.» Der Arzt oder die Ärztin sei verpflichtet, die Paare umfassend über die Vor- und Nachteile sowie über die Konsequenzen zu informieren.
Auf diesen Punkt legen die Mediziner nicht zuletzt in ihrem eigenen Interesse viel Wert: Denn die Gefahr ist real, dass Paare nachträglich versuchen, juristisch gegen Ärzte vorzugehen, und ihnen vorwerfen, sie nicht genügend aufgeklärt oder eine Fehlbildung beim Kind übersehen zu haben.
Die NIPT-Tests, die seit einigen Jahren die Palette ergänzen, seien grundsätzlich gut, sagt Roland Zimmermann. Er gibt allerdings zu bedenken, dass die NIPT-Tests nur einen bestimmten Teil der Chromosomenstörungen abdecken, die diagnostiziert werden können. Mit den NIPT-Tests lässt sich mit grosser Genauigkeit eine Trisomie 21, 18 oder 13 nachweisen. «Es gibt daneben aber unglaublich viele Chromosomenanomalien, die unter Umständen grosse Auswirkungen auf das Leben eines Kindes und einer Familie haben», erklärt Zimmermann.
Verletzender Unterton
Mit anderen Worten: Auch die NIPT-Tests haben ihre Schwächen. Mit den invasiven Untersuchungen, also einer Chorionzottenbiopsie oder einer Fruchtwasserpunktion, lassen sich viel mehr Chromosomenabweichungen nachweisen. «Das ist kein Plädoyer für invasive Tests», hält Zimmermann vom USZ fest. «Wichtig ist in jedem Fall, dass sich Eltern überlegen, was sie tun werden, wenn ein ungünstiger Befund eintritt. Dabei müssen wir Ärzte sie unterstützen. Wir geben am USZ alle Informationen zusätzlich schriftlich ab, denn doppelt genäht hält besser.»
In den Jahren zwischen 2003 und 2017 sind in den Schweizer Spitälern jeweils pro 10 000 Lebendgeburten zwischen 4 und 10 Kinder mit Down-Syndrom zur Welt gekommen. Eines dieser Babys war im August 2006 Mael, der Sohn von Barbara Habegger. Für sie wäre damals eine ausgewogene Aufklärung wichtig gewesen. Vor allem aber hätte sie sich zuweilen gewünscht, das Umfeld hätte sensibler reagiert. «Wir wurden mehr als einmal gefragt, ob wir es denn nicht gewusst hätten. In dieser Frage schwang jeweils ein Unterton mit, der mich verletzt hat.»
NZZ 28.4.2020 – Rebekka Haefeli