Die Entwicklung von der Zeugung über die Geburt hinaus ist ein linearer Prozess. Der ungeborene Mensch ist deshalb von Anfang an ein voller Mensch mit allen Rechten. Es wäre deshalb nötig, dass im konkreten Entscheidungsprozess über eine Abtreibung jemand seine Interessen wahrt.
Vor gut zwanzig Jahren – am 2. Juni 2002 – hiess das Stimmvolk mit 72,15% die Fristenregelung gut und verwarf gleichzeitig mit 81,8% Nein-Stimmen die Volksinitiative «für Mutter und Kind». Das Inkrafttreten der Fristenlösung erfolgte auf den 1. Oktober 2002 und die Abtreibung ist in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen somit legal.
Weit über 200’000 Menschen wurden seither insgesamt vorgeburtlich «beseitigt» und jedes Jahr kommen weitere rund 10’000 hinzu. Seit 2017 steigt zudem die Quote und 2021 wurden 11’049 Abtreibungen erfasst.
Aber auch nach der Dreimonatsfrist bleibt ein Abbruch möglich, wenn eine physische und/oder psychische Gefährdung der Gesundheit der Frau geltend gemacht wird. Die Beurteilung liegt bei einer ärztlichen Fachperson und ist in der Regel eine Formsache. Jährlich finden in der Schweiz 400-500 solche Spätabtreibungen statt. In extremen Fällen muss dabei ein überlebensfähiges Kind im Mutterleib gezielt getötet werden.
Nicht eine Frage der Gesundheit
Feministische Kreise wollen uns weismachen, Abtreibungen seien eine reine Frage der Gesundheit der Frau. Die militante Nationalrätin Léonore Porchet (VD/Grüne) reichte hierzu eine Parlamentarische Initiative ein. Sie verlangte, dass die Abtreibungsartikel im Strafgesetz gestrichen und durch ein «Gesundheitsgesetz» ersetzt werden sollen. Glücklicherweise lehnte der Nationalrat diesen Vorstoss am 7. März 2023 mit 99 zu 91 Stimmen bei 6 Enthaltungen ab.
In der Begründung schrieb Porchet, die Kriminalisierung der Abtreibung sei «eine der Hauptursachen für das Stigma, mit dem Schwangerschaftsabbrüche in der Schweiz bis heute behaftet sind». Auch das «abtreibungsfeindliche Gesundheitspersonal» behindere die freie Abtreibung. Eine Abtreibung «aus Bequemlichkeit» gebe es überhaupt nicht, meinte Porchet. Sie dürfe deshalb nicht mehr als «Straftat mit Ausnahmen» betrachtet werden, sondern sei eine ausschliesslich gesundheitliche Entscheidung.
Tatsächlich entspricht das Narrativ der Abtreibung als reine Gesundheitsfrage auch den abstrusen Ideen der UNO-Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese erliess anfangs März 2022 neue Richtlinien zum Schwangerschaftsabbruch («Abortion Care Guideline»). Sie fordert darin eine Entkriminalisierung der Abtreibung, die Abschaffung von Wartezeiten vor dem Eingriff und den Verzicht auf Zustimmung Dritter (Ärzte, usw.). Damit verstärkt sich auch der Druck auf das Medizinalpersonal zur Mitwirkung an Abtreibungen.
«Jetzt gerade unpassend»
Anerkanntermassen gibt bei Schwangerschaften ernste Fälle, bei denen das Leben der Mutter auf dem Spiel steht. Auch können Umstände einer echten psychischen Notsituation der Mutter entstehen. In vielen, allzu vielen Fällen jedoch wird aus völlig banalen Gründen abgetrieben – nämlich weil ein Kind ganz einfach nicht in den Lebensentwurf oder die momentane Lebenssituation hineinpasst. Oder etwas plumper ausgedrückt: Ein Kind ist jetzt gerade unerwünscht.
Statt dieser opportunistischen Haltung sollte der Entscheid über eine Abtreibung eine tiefe ethische Abwägung des Lebensinteresses des Kindes und der Interessen der Mutter sein. Hierzu gehört auch, dass der Entscheid darüber nicht einfach einseitig in die Hand der Mutter gelegt wird.
Ein Anwalt für die Ungeborenen
Unzurechnungsfähige und entmündigte Menschen erhalten einen Beistand, der sie anwaltschaftlich vertritt. Auch die Natur hat ganze Organisationen als Anwälte, die sogar das Verbandsbeschwerderecht ausüben. Bei familienrechtlichen Streitigkeiten bekommen Kinder einen Kinderanwalt, der ihre Interessen vertritt. Und neuerdings sollen sogar sog. Tieranwälte geschaffen werden, welche die Rechte des Tiers in Rechtsverfahren geltend machen.
Bloss das ungeborene Kind hat keinen Anwalt. Niemand wahrt seine Rechte in der existenziellen Auseinandersetzung, in der es sich befindet. Existenziell im wahrsten Sinne des Wortes, denn es geht um sein Leben oder seinen Tod. Kein Richter und kein Anwalt wahren seine Interessen. Im Gegenteil: Die involvierte Gegenpartei – die Mutter – hat die alleinige Entscheidungsbefugnis über sein Überleben. Das darf doch nicht sein.
Das ungeborene Kind ist nicht «Eigentum der Mutter»!
All jene, die behaupten, jede Abtreibung sei eine konkrete Frage der Gesundheit der Mutter und erfolge nur in schwerster Not, müssten eigentlich einem Anwalt der Ungeborenen problemlos zustimmen. Dieser könnte die Rechte des ungeborenen Kindes wahren und ein Richter feststellen, ob der geltend gemachte gesundheitliche Sachverhalt zutrifft. Ist das der Fall – wie die Feministinnen ja behaupten – so darf abgetrieben werden.
Aber das Gegenteil ist der Fall. Das ungeborene Kind hat nicht nur keinen Anwalt, der seine Interessen vertritt. Öffentliche Kritik an der Abtreibungspraxis gilt sogar als verwerflicher Druck auf die Mutter. Diese Position geht von der unhaltbaren Prämisse aus, dass der ungeborene Mensch das «Eigentum» der Mutter oder «ihr» Kind sei, worüber sie – mindestens in den ersten Schwangerschaftswochen – frei verfügen kann. Auch die Fristenlösung basiert auf dieser Überlegung.
Graduelle Entwicklung
Dies ist jedoch genauso falsch, wie «Fristen» keine Lösung sind. Die Entwicklung eines Menschen ist von der Zeugung über die Geburt hinaus ein linearer Prozess ohne klare Grenze, an der man sagen könnte: Erst ab diesem Zeitpunkt handelt es sich um einen Menschen. Abtreibungsbefürworter suchen zwecks Begründung der Abtreibungsfreigabe seit Jahren erfolglos nach einer solchen Schwelle.
Der Grund ist, dass der Mensch eben bereits ab seiner Zeugung mit all seinen genetischen Anlagen eine unverwechselbare, einmalige Person ist. Für uns als Christen kommt mit dieser Einmaligkeit das Personalitätsprinzip ins Spiel, dass das menschliche Leben eben ein Geschenk ist. Es ist uns – wie die Natur insgesamt – vom Schöpfer zur sorgsamen Hege und Pflege anvertraut. So spricht Gott zum Propheten Jeremia (1,5): «Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoss hervorkamst, habe ich dich geheiligt».
Und dieses Personalitätsprinzip entspricht dem absoluten Vorrang und der Unantastbarkeit des Lebens und der Würde des Menschen, wie sie zum Beispiel auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als oberster Wert der staatlichen Ordnung zu finden ist. Personalität ist Ausgangs- und Fluchtpunkt jeder Soziallehre. Sie ist ein Grundstein der Menschlichkeit
Claudia Kaufmann